Mann, Frau, X – alles in bester (Schöpfungs-) Ordnung?

“Ordnung” ist ein schönes Wort: Was geordnet ist, kann ich verstehen, verwenden, vielleicht beherrschen. Mein Schreibtisch ist das beste Beispiel dafür, wie wichtig Ordnung ist. Je mehr Papierstapel und Radiergummis darauf herumliegen, desto mehr verliere ich die Kontrolle über ihn und desto größer ist der Bogen, den ich um ihn mache.


Rutschende Schubladen

In der christlichen Welt war der Begriff der “Schöpfungsordnung” zuweilen ein Leuchtturm der Orientierung in finsteren Zeiten: Der Schöpfer hat anscheinend aufgeräumt – und wir, so der Unterton, lassen besser die Finger von dieser Ordnung. Besonders praktisch beim Herstellen von Ordnung sind bekanntlich Schubladen (mein Schreibtisch hat auch welche). Die elementarsten Schubladen stehen anscheinend direkt am Anfang der Bibel, in der Schöpfungsgeschichte: “Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde und er schuf sie als Mann und Frau.” Zwei Schubladen, zwei Geschlechter, mehr ist nicht drin – oder?

Nun ja. Wir leben in chaotischen Zeiten. Ökonomische und politische Gewissheiten geraten ins Rutschen, alte binäre Schemata wie Links-Rechts, “Inländer”-”Ausländer”, Arbeiter-Akademiker etc. gehen zunehmend weniger auf. Und nun auch noch das: Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts steht die Eintragung eines dritten Geschlechts (“divers”?) in der Geburtsurkunde kurz bevor.

Ein großer Teil der Gesellschaft wird diese Entscheidung wahrscheinlich überfällig finden – oder mit einem Achselzucken zur Kenntnis nehmen. Aber nicht alle – die “Christen in der AfD” etwa warnen: “Gottes Schöpfungsordnung sieht genau zwei Geschlechter vor: Mann und Frau. Und beide lassen sich anhand anatomischer Merkmale in der Regel sehr genau unterscheiden. Alles andere entspringt der blühenden Phantasie selbsternannter Gender-Aktivisten.”

Die säkular angehauchte Gegenfrage wäre dann natürlich: Wenn Mensch und Schublade nicht zueinander passen (oder nie wirklich zueinander gepasst haben) – wer von beiden muss sich dann verändern? Mich persönlich würde diese Antwort bereits restlos überzeugen. Aus christlicher Perspektive wirft sie natürlich die Frage auf: Wie ist der eben zitierte Bibeltext denn sonst zu verstehen?


Der Unterschied zwischen “und” und “oder”

Ohne jetzt ausführlich auf die zugrundeliegende Frage eingehen zu können, wie “heilige Schriften”  überhaupt gelesen und interpretiert werden können, möchte ich im Folgenden eine Lesart skizzieren, die viel Raum jenseits der Schublade lässt. Wer viel Wert auf “Ordnung” legt, liest in der Geschichte nämlich vor allem eine binäre (= zweiteilige) Entgegensetzung: Mann – Frau – sonst nichts. Gemeint wäre also: “Gott schuf den Menschen entweder als  Mann oder als Frau” – genau das steht da aber nicht. Tatsächlich sagt der Vers zunächst: “Gott schuf den Menschen nach seinem Bild” – also nach etwas, das weder auf “männlich” noch auf “weiblich” festgelegt ist. Erst danach ist von diesen beiden Kategorien die Rede. Und hier steht immer noch nicht “als entweder Mann oder Frau”, sondern “als Mann und Frau” – manche Übersetzungen schreiben inzwischen auch “als männlich und weiblich” (wobei ich als Nicht-Theologe kein Experte für Übersetzungen bin).

Anders als das “oder” markiert die Konjunktion “und” gerade keine festen Grenzen. Es muss in diesem Vers vielleicht nicht darum gehen, eine Abgrenzung zu markieren, sondern es kann im Gegenteil auch darum gehen, eine Vielfalt aufzunehmen (wie ja die ganze vorausgehende Schöpfungsgeschichte von Vielfalt handelt): männlich und weiblich sind Kategorien (wenn’s sein muss, vielleicht auch: “Pole”), die beide in der Menschheit / im “Menschen” als Teil der Schöpfung vorkommen. Das bedeutet aber gerade nicht, dass jeder einzelne Mensch nur in eine einzelne dieser Kategorien fallen darf. Wenn sie beide zur “Schöpfung” gehören, können sie auch beide im Geschöpf vorkommen.


Zwei hermeneutische Hinweise

Bevor ich daraus einige Konsequenzen ziehe, möchte ich diese Interpretation zunächst mit einigen Gedanken zum biblischen Kontext untermauern.

Erstens basiert die binäre Lesart vermutlich auf einem Kurzschluss der beiden Schöpfungsberichte am Anfang des Buchs Genesis. Im ersten Schöpfungsbericht, dem der zitierte Vers entstammt, ist nur generell die Rede davon, dass Gott (irgendwelche / alle) “Menschen” schafft – und dass diese dann die Eigenschaft “männlich und weiblich” haben. Hier ist noch nicht von zwei konkreten einzelnen Individuen die Rede. Diese treten erst im zweiten Schöpfungsbericht auf und heißen dort bekanntlich Adam und Eva. Nur wenn man beide Erzählungen miteinander kurzschließt und identifiziert, folgt zwingend, dass der Ausdruck “der Mensch” im ersten Bericht ausdrücklich einen Mann einerseits (Adam) und eine Frau andererseits (Eva) meint. Es gibt aber gravierende Unterschiede zwischen den beiden Erzählungen, was z. B. die Reihenfolge des Geschehens, den Fokus der Erzählung usw. angeht.  

Davon abgesehen fragt sich aber auch, wer im zweiten Bericht überhaupt gemeint ist. Zumindest Adam ist nämlich ein archetypischer Name: Er ist – hier liegt die hebräische Wortwurzel – “der Lehmling”, er ist nur durch die Materie definiert, aus der er entstanden ist. Augenscheinlich geht es weniger um eine konkrete Einzelperson, eher um eine Allegorie “des Menschen” an sich.

Zweitens dekonstruiert die Schöpfungsgeschichte selbst die Bedeutung sprachlicher Einteilungen. Im 2. Kapitel des Buchs Genesis bringt Gott “jedes lebendige Wesen” vor den Menschen, “dass er [Gott] sähe, wie er [der Mensch] sie nennen würde”. Die Einteilung der Welt durch Sprache ist also – so die überraschende poststrukturalistische Pointe – eine menschliche Konstruktion. Sie ist möglich, sie ist vielleicht notwendig, aber sie ist keine unmittelbare Vorgabe des Schöpfers (oder gar der Natur), im Gegenteil. Und diese Konstruktion umfasst letztlich auch die Benennung der Frau als Gegenpart: “Sie soll Männin heißen; denn sie ist dem Mann entnommen!” – sprach Adam.


Konsequenzen aus der nicht-binären Lesart

Lesen wir “männlich” und “weiblich” nicht als Schubladen, sondern als zwei Aspekte, die beide in der “Schöpfung” vorkommen, dann ändert sich viel. Denn dann ist auch Platz für Menschen, die allein aufgrund ihrer Identität nicht ins alte System passen. Genau das ist der Unterschied zwischen der Schöpfung und meinem Schreibtisch. Auf meinem Schreibtisch muss alles “weg”, was nicht draufpasst. Was keinen Zweck erfüllt, passt nicht ins System. Aber Menschen sind eben keine Radiergummis, die einen fertigen Zweck mitbringen. Sie sind nicht mal der Schreibtisch. Sie sind die Person, die vor dem Schreibtisch sitzt. Oder formulieren wir, in Anlehnung an Jesus’ Bemerkungen zum Sabbat: “Die Ordnung ist für den Menschen da und nicht der Mensch für die Ordnung”.

Dieser Gedankengang betrifft nicht allein intersexuelle Menschen (um die es im Urteil des BVerfG ja zunächst geht). Es geht auch um die kulturelle Zuschreibung davon, was “männlich” und “weiblich” ist. Die Vorstellung, dass bestimmtes Bild uns vorschreibt, wer und wie wir zu sein haben, nennt man in der Philosophie “essentialistisch” – die “Essenz” definiert z. B., was ein “Mann” denn “eigentlich” ist – und wenn ich ein “richtiger” Mann sein will, muss ich mich eben daran anpassen. Diese Vorstellung kann Menschen vielleicht Orientierung geben, kann aber auch Druck erzeugen.

Nur zwei wichtige Gedanken zum Essentialismus: Erstens ist er nicht unbedingt “biblisch”. Denn in der Schöpfungsgeschichte heißt es nicht, dass jeder Mensch sich an ein Bild “des Mannes” oder “der Frau” anpassen soll, sondern es geht vielmehr um das Bild Gottes – und auch das soll er nicht erst werden, sondern das ist er schon. Soweit der Text.

Der zweite Gedanke ist mir noch wichtiger. Selbst wenn man essentialistische Zuschreibungen von “Mann” / “Frau” für sinnvoll hält, können sie immer noch auf unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Graden zutreffen. Es geht hier um ganz normale Identitätsfragen: Muss ich beruflichen “Erfolg” haben? Welche Aufgabe passt zu mir: “Ernährer”, “Tröster”, “Fighter”…? Alles auf einmal? Oder mal dies, mal das? Und nun doch: Muss es überhaupt etwas geben, das ich eigentlich bin? Reicht es nicht, dass ich ich bin?

Dieser Perspektivwechsel ist keine postmoderne Spielerei. Im Gegenteil: Thorsten Dietz hat in einem sehr hörenswerten Worthaus-Vortrag gezeigt, dass auch im biblischen Gottesbild sowohl “männlich”, als auch “weiblich” konnotierte Rollen auftreten – und dass sich daher selbst die konservativsten Gläubigen mit variablen Geschlechterrollen identifizieren können (Stichwort: “Braut Christi”).


Abgesang auf den “ungezähmten Mann”

Im Folgenden geht es mir allerdings nicht ums Gottesbild, sondern ums Menschenbild. Dazu ein Schwank aus fernen Tagen: In den 2000ern war John Eldredges Buch Der ungezähmte Mann Gesprächsstoff unter jungen Männern in der freikirchlichen Szene. Der Untertitel verheißt: Auf dem Weg zu einer neuen Männlichkeit. Diese, so Eldredge, brauchen wir angesichts all der “Karikaturen von Männlichkeit”, die er leider in seiner eigenen Nachbarschaft vorfindet (S. 65).

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Die “neue Männlichkeit” ist, genau besehen, eine ziemlich alte und sie besteht aus drei Aufgaben: eine Schlacht schlagen, ein Abenteuer bestehen und die Prinzessin erobern. Dass sie vor allem eine Destillation aus Hollywood-Filmen darstellt, fällt dem Autor zwar auch auf, er zweifelt deswegen aber nicht an der Unbestechlichkeit seiner Erkenntnismethode: “Ich höre genau zu, was mir viele, viele Männer über sich erzählen, und so bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass diese Sehnsüchte universell sind – ein Schlüssel zum Geheimnis der Männlichkeit an sich.” (S. 27).

Die Logik ist bestechend simpel: Ich erzähle Euch, was Ihr immer schon dachtet, um zu beweisen, dass es stimmt. Die “Sehnsüchte”, mit denen das Buch spielt, sind denn auch das Geheimnis seines Erfolges. Selbst in der modernen Zivilisation, in der Toleranz, Gleichberechtigung und Rechtsstaat hochgehalten werden, ist irgendwie noch Platz für den “wilden” Kerl, frei, stark und gefährlich wie ein Löwe. “Unsere Kultur” dagegen “hat sich gegen Männlichkeit an sich gewandt und versucht sie schon früh auszutreiben” (S. 110), was etwa der alarmierende Versuch der Schule zeigt, Jungen in ihr System einzupassen (ebd.).


Wartet die Welt wirklich auf wilde Kerle?

Aber war Disziplin nicht auch eine männliche Tugend? Auf jeden Fall braucht die Welt wieder richtige Kerle, denn: “Die Sklaverei in den USA wurde überwunden durch die Stärke von Männern […]. Die Macht der Nationalsozialisten wurde von Männern gebrochen. Die Apartheid wurde nicht von Frauen besiegt.” (S. 114) – ein erstaunliches Argument, wenn man bedenkt, dass es in allen zitierten Fällen die Männer waren, die den Karren der Menschheit überhaupt in den Dreck gefahren haben. Und zwar durchaus keine weichgespülten Gender-Typen, im Gegenteil.

Zum Glück muss der “ungezähmte Mann” am Ende dann doch nicht in die feindlichen Maschinengewehr-Salven der Normandie-Landung rennen, die das Buch ständig zitiert. Er kann durchaus regulärer Familienpapa sein, solange er mit seinen “Jungs” wenigstens zum Wildwasser-Rafting geht (S. 251). Was mein eigener Vater mir zum Glück nie angetan hat.

Welche Sorte “Mann” ist heute nötig? Eigentlich eine überflüssige Frage, wie Eldredges Buch an einer Stelle sogar selbst andeutet. Zitieren wir mit ihm Gil Bilie: “Frage dich nicht, was die Welt braucht. Frage dich lieber, was dich lebendig macht, und dann geh hin und tu das Entsprechende. Denn die Welt braucht nichts so sehr wie Menschen, die lebendig geworden sind.” (S. 254). Werde nicht ein Bild, das Dir jemand vorgibt. Werde lebendig.

Was für ein befreiender Gedanke.

Literatur:

John Eldredge, Der ungezähmte Mann. Auf dem Weg zu einer neuen Männlichkeit, Gießen 4. Aufl. 2004.


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